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Perspektivwechsel

______ Gelernte Denkmuster aufbrechen und einfach mal die Perspektive wechseln fällt vielen Menschen schwer. Schade, denn wer sich aufrafft, die Welt gelegentlich mit anderen Augen zu sehen und Probleme aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten, wird oft mit mehr Durchblick und mehr Verständnis für andere belohnt.  Deswegen entschied sich  Jiska Ricking, ihren Standpunkt  von Gronau nach Ghana zu ver legen und dort ein Freiwilliges  Soziales Jahr zu absolvieren.

Bolgatanga, die „Stadt, die auf Felsen gebaut ist“, liegt im Norden Ghanas und ist die letzte größere Stadt vor der Grenze zu Burkina Faso.

NNach dem Abitur hatte ich einfach keine Lust, direkt zur Uni zu gehen. Ich hielt es für spannender, die Welt erst einmal aus einer neuen Perspektive zu erleben und dabei gleichzeitig etwas Sinnvolles zu tun. Und genau dafür ist ein Freiwilliges Soziales Jahr einfach perfekt. Am besten im Ausland, so wie meine Schwester, die als Au-pair in Amerika war.Statt für Amerika entschied sie sich für Afrika. „Ich kannte den Kontinent noch gar nicht und fand es unheimlich spannend, dort Auslandserfahrungen zu sammeln.“ Die kirchliche Organisation Freiwillige Soziale Dienste (FSD) im Bistum Münster bot ihr als Standort Ghana an, wo sie als Helferin an einer Schule arbeiten und Nachhilfeunterricht erteilen sollte. „Das hörte sich spannend an. Außerdem habe ich mich sehr auf den kulturellen Austausch gefreut und, wie schon erwähnt, den Perspektivwechsel, der mir wirklich wichtig war.“

Im September 2021 flog Jiska von Deutschland aus in die ghanaische Hauptstadt Akkra, von dort aus dann weiter per Inlandsflug nach Bolgatanga. „Das Land ist echt groß, mit dem Auto hätte es über 15 Stunden über Ruckelpisten gedauert.“ Bolgatanga, die „Stadt, die auf Felsen gebaut ist“, liegt in der Upper East Region von Ghana. Sie ist Sitz des Bolgatanga Municipal Districts und die letzte größere Stadt vor der nördlich verlaufenden Grenze zu Burkina Faso. „Die Stadt hat nur schätzungsweise 70.000 Einwohner, ist aber an Markttagen doppelt so busy wie Münster und deutlich jünger und lebhafter als Gronau. Da geht es richtig ab. Von Bolgatanga braucht man 30 Minuten mit Cando (Dreirad mit Motor) zu unserem Haus oder auch zu unserer Schule, die liegen beide in dem Dorf Logre. Eine Fahrt dauert knapp 30 Minuten und kostet 8 Cedi, also ungefähr 50 Cent. Billiger als jeder Bus bei uns.“

 

Handarbeit statt Thermomix: Jiska und ihre Freundin Lilian Yen stampfen Cassava und Yam für Fufu, ein leckeres westafrikanisches Gericht.

Freundschaften zu knüpfen ist in Ghana unkompliziert, die Menschen dort sind unglaublich positiv und offen. Ich habe fünf neue Freunde gewonnen, wirkliche Freunde, und das ist sehr viel für nur ein Jahr, finde ich.

JISKA RICKING

Gewohnt hat Jiska mit Marla Klaas, einer weiteren Münsteraner Freiwilligen, im Haus der Schwestern vom Orden der Daughters of Charity of St. Vincent de Paul. „Unsere Mentorin hieß Sister Bernadine, die ist zuständig für die katholischen Schuleinrichtungen der Region und hat sich richtig toll um uns gekümmert. Wir hatten unsere eigenen Räume und haben auch immer selbst gekocht. Außer sonntags, da haben die Ordensschwestern mit uns nigerianische Spezialitäten gegessen, weil sie alle aus Nigeria kommen. Es gab zum Beispiel Reis mit Stew oder Perlhuhn, das war eine leckere Abwechslung zu dem deutschen Essen, das wir für uns zubereitet haben, und zu den ghanaischen Rezepten, die wir ausprobiert haben.“ Die Arbeit mit den Lehrern und den jungen Schülern, denen sie Nachhilfe in Englisch gab, machte Jiska richtig Spaß. „Jeden Morgen sind wir in fünf Minuten den Hügel, wo das Schwesternhaus draufsteht, zur Schule heruntergelaufen. Dort wurde viel mit den Kollegen geredet, gelacht und diskutiert. Je länger ich dort war, desto mehr habe ich von der ghanaischen Kultur miterlebt und vieles besser verstanden. Die Afrikaner sehen Deutschland ganz anders als wir uns selbst, für sie sind Weiße von Geburt an privilegiert und alle Deutschen sind reich. Wenn ich mit meinen Mitbewohnern ein Festival oder einen Event besucht habe, wurden wir direkt neben die Chiefs gesetzt, wie wichtige Gäste der Upper East Region, nicht wie Assistenten an einer Schule. Andersherum wäre das doch unvorstellbar. Ein ghanaischer Schulpraktikant würde in Münster wohl kaum neben den Oberbürgermeister gesetzt, oder? Mein Lehrerkollege, Moses Zuulep, möchte sehr gerne mal nach Berlin. Er hat sich schon viel damit und auch generell mit Europa auseinandergesetzt. Deshalb geht er davon aus, dass er wahrscheinlich mehr Rassismus als Gastfreundschaft spüren würde, wenn er Deutschland besucht.“
Handarbeit statt Thermomix.

Mehr als die Hälfte der Bewohner der Region Bolgatanga sind heute Christen. Da die ersten Missionare neben der religiösen Arbeit auch als Pioniere im sozialen Bereich tätig waren, verfügt die Kirche im Norden Ghanas heute über die besten öffentlichen Schulen und die besten Kliniken des Landes. Religion und Kirche haben daher einen noch höheren Stellenwert in der Bevölkerung. „Jeden Tag haben wir um 12 Uhr in unserer Schule gebetet und es wurden im Unterrichtsfach Religion (Religion and Moral Education, RME) drei Religionen unterrichtet, die christliche, die muslimische und die traditionellen ghanaischen Glaubensrichtungen, die alle an kleinere Gottheiten glauben, aber sich auch unterscheiden. Ich habe in Ghana übrigens nie gehört, dass es religiöse Spannungen gibt. Ich bin sogar den Kreuzweg mitgelaufen und wesentlich öfter in die Kirche gegangen als in Gronau, wo ich früher Messdienerin war. In Ghana ist der Gottesdienst noch ein echtes Gemeinschaftserlebnis, zu dem die Menschen des Ortes gerne zusammenkommen, wo man seine Leute trifft und auch alle Ordensschwestern hingehen. Der Gottesdienst hat es allerdings in sich, er dauert immer so um die 2 ½ Stunden.“ Jiska hat das Erlebte sichtlich beeindruckt. „Mein eigener Glaube wurde in Ghana sehr gestärkt. Man fragt sich in so einem Umfeld einfach viel öfter, woran man eigentlich glaubt. Wenn man an Gott glaubt, kommt man sich in der modernen Gesellschaft zu Hause oft altmodisch und konservativ vor, in Ghana fühlt sich das aber völlig normal und einfach richtig an.“

Während ihrer Ausflüge durch die Region beeindruckten sie besonders die immer noch gut erhaltenen kolonialen Strukturen Ghanas. „In Elmina an der Küste Ghanas liegt zum Beispiel ein Friedhof für die verstorbenen britischen und niederländischen Gouverneure Ghanas, also die Unterstützer und Profiteure des Sklavenhandels. Der war nicht nur tipptopp gepflegt, sondern sogar ein Statussymbol, wo sich heute reiche Locals beisetzen lassen, inmitten der ehemaligen Kolonialherren und Besatzer. An solchen Orten bekommt man ein ganz beklemmendes Gefühl und spürt, dass es wichtig ist, die Vergangenheit niemals zu vergessen.“

Mein eigener Glaube wurde in Ghana sehr gestärkt. Man fragt sich in so einem Umfeld einfach viel öfter, woran man eigentlich glaubt.

JISKA RICKING

Im August 2022 kehrte Jiska mit einem Sack voll neuer Eindrücke zurück in die Heimat, wo sie erst noch jobbte, bevor im September ihr Biostudium begann. „Der Job und das Studium haben mir geholfen, nach der langen Zeit in Afrika wieder die hier notwendige Struktur in mein Leben und meinen Alltag zu bekommen. Der letzte Monat in Ghana war schon echt stressig und es gab richtig viel zu tun. In Gronau musste ich dann erst einmal runterkommen und mich wieder an den Luxus hier gewöhnen. Dazu gehörte für mich anfangs sogar das Duschen, eine funktionierende Dusche gab es bei uns in Ghana nämlich nicht. Es ist auch Wahnsinn, wie viel Essen bei uns weggeschmissen wird, zum Beispiel in den Mensen, in denen ich vor und nach dem FSJ gejobbt habe.“ Jiska ist nach ihrem spannenden Auslandsjahr dankbar dafür, dass sie in Deutschland studieren kann, was sie will. „In Ghana sähe das völlig anders aus. Es war mir vorher gar nicht so bewusst, wie viel besser unsere Zukunftschancen in Deutschland sind.“

Vielleicht kann ich ja ein kleines bisschen dabei helfen, Vorurteile abzubauen.
JISKA RICKING

Gruppenbild vom Schulausflug mit Jiskas Schulleiter Brother Franklin Bilipke (vorne links) zur lokalen Radiostation in ­Bolgatanga.

In den ersten Monaten hat sie noch viel von Ghana geträumt und chattet auch heute noch mit ihren Freunden und Kollegen aus der Zeit in Bolgatanga. „Freundschaften zu knüpfen ist in Ghana unkompliziert, die Menschen dort sind unglaublich positiv und offen. Ich habe fünf neue Freunde gewonnen, wirkliche Freunde, und das ist sehr viel für nur ein Jahr, finde ich.“ Als wir uns von Jiska verabschieden, bedankt sie sich bei uns. „Ich finde es cool, meine Erfahrungen an eure Leser weitergeben zu können. Vielleicht kann ich ja ein kleines bisschen dabei helfen, Vorurteile abzubauen.“ Hoffen wir, dass uns das gemeinsam gelingt, Jiska.